Im Dickicht des Regenwalds:
Ein Blick in die Werkstatt des Kölner
Büros für Konzertpädagogik
Praktikumsbericht von Christina Lenke
Über das städteübergreifende Musikfestival stadt-klang-fluss wurde ich 2004 auf die Arbeit des Kölner Büro für Konzertpädagogik aufmerksam und entschloss ich mich, durch ein Praktikum die Arbeit der Kulturpädagogin Anke Eberwein sowie der beiden Komponisten hans w. koch und Bernhard König näher kennen zu lernen. Die Tatsache, dass der Kern ihrer pädagogischen Arbeit im kreativen Austausch mit Kindern besteht, machte mich besonders neugierig. Was mochte dies wohl bedeuten: einen künstlerischen Prozess im kreativen Dialog zwischen Kindern und Komponist/Konzertpädagoge in Gang zu setzen? Meine Zeit als Praktikantin beim Kölner Büro für Konzertpädagogik im April und Mai 2005 hat mir Einblick in drei, parallel laufende Projekte gewährt.
Alltag in der Schule: der ganz normale Wahnsinn?
Am 4. April besuche ich zusammen mit Bernhard König die beiden vierten Klassen der Pestalozzi-Grundschule in Düsseldorf, die sich für eine Mitarbeit beim Projekt „Bitte nicht füttern“ gemeldet hatten. Sogleich finde ich mich inmitten eines bereits angelaufenen Projekts wieder: Die Kinder hatten sich während Bernhards erstem Unterrichtsbesuch Fabelwesen ausgedacht, halb Instrument halb Tier, und ihre Ideen aufgemalt: Eine ‚Papageige’ ist da beispielsweise zu sehen oder ein ‚Katzboard’.
Doch wie wir zu einer Umsetzung dieser Ideen geraten sollen, ist mir ein Rätsel. Die Klasse wirkt bei den anfänglichen „Warming-Up-Übungen“ auf mich fahrig und unkonzentriert. Einige Kinder nutzen jede Gelegenheit, um sich möglichst albern und störend als Klassenclowns darzustellen und fahren selbst bei wiederholter Ansprache unbeeindruckt damit fort.
Erst als eine klassenintern offensichtlich sehr beliebte Sprecherin an der Reihe ist, wandelt sich die Atmosphäre. Sichtlichen Spaß haben die Schülerinnen und Schüler daran, diesen Vers wie eine feine Dame oder eine alte Oma vorzutragen. Bernhard besteht auf eine überzeugende Darstellung und erreicht damit gleichzeitig, dass die Kinder sich an die musikalischen Absprachen halten.
Über derartige Rollenspiele werden sich in den nächsten Wochen meiner Hospitation die Darbietungen der Kinder in überzeugende und spannungsgeladene Darstellungen verwandeln. Hier erfüllt das Spiel vorerst einen ganz unmittelbaren Zweck: Es hat eine konzentrierende Wirkung auf die Kinder, die plötzlich ganz bei der Sache sind.
Im Dickicht des Regenwalds: Arbeit nach eigenen Vorgaben
Ins kalte Wasser der kompositorischen Praxis werde ich gleich anschließend geworfen, als es darum geht, dass sich die Kinder in kleinen Gruppen ein Stück Musik zum Thema „musikalische Fabelwesen“ ausdenken sollen. Aber nicht nur ich muss diesen Sprung wagen, auch meine zehnjährigen Schützlinge fühlen sich, so ist zumindest mein Eindruck, ähnlich verunsichert.
Die Idee, einen Regenwald klanglich darzustellen, ist zwar schnell gefunden. Doch wie dieser Wald musikalisch gestaltet werden soll, darüber herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Die Fähigkeit sich selbst zu organisieren, stellt eine völlig neue Vorgehensweise für die Kinder dar.
An diesem Punkt des Gestaltungsprozesses fühle ich mich dazu aufgefordert, der von mir betreuten Kleingruppe Hilfestellungen zu geben. Doch wie viel kreative Freiheit soll ich den Kindern überlassen, ab wann muss ich wieder zu klaren Vorgaben übergehen?
Als Bernhard dann rettender Weise zu unserer Gruppe stößt und mit einigen Handgriffen unsere Probleme in Luft auflöst, wird mir einiges an seiner Arbeit plausibler. Indem er sich lediglich als Katalysator für die Ideen der Kinder begreift, sich nicht in die Grundidee einmischt und eigentlich nur unterstützend eingreift, fühlen sie sich von ihm sich ernst genommen. Die Folge ist ein klarer Identifikationsbonus in Bezug auf die Musik, die zusammen erarbeitet wird.
Wassertropfensinfonie: Orchestermusiker als Schüler
Zehn Tage später sitzen Bernhard König und ich zusammen mit 26 Musikerinnen und Musikern des Beethovenorchesters Bonn auf der Bühne der Beethovenhalle.
Im Verlauf einer eintägigen Fortbildung sollen sie auf ihre eigenen Unterrichtsbesuche im Rahmen des Projektes „Wassertropfensinfonie“ vorbereitet werden.
Die Motivationen für die Teilnahme sind vielfältig. Sie reichen von der Angst um den Fortbestand großer Orchester oder der klassischen Musik überhaupt bis zum Interesse, wie man über das Vorstellen des eigenen Instruments hinaus in Kontakt mit Kindern kommen kann.
Zum ersten Mal erlebe ich den Einstieg in ein solches Projekt. Die Aufwärmübungen, die Bernhard mit den erwachsenen Musikern und Musikerinnen macht, gleichen denen, die diese im weiteren Verlauf des Projekts mit den Klassen machen sollen. Nach Bernhards Erklärung bildet das Schlüpfen in die Schülerperspektive eine Voraussetzung für eine gelungene musikalische Arbeit mit Kindern. Über das eigene Erleben erhalten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen eine Ahnung von möglichen Motivations- oder Verständnisschwierigkeiten, die während einer solchen Arbeit auftauchen können. Erstaunlich für mich ist dabei, dass bei den Vokalimprovisationen auch die Orchestermusiker – ähnlich wie so manche Schulklasse – erst einmal stimmliche Hemmungen abbauen müssen.
Der Tagesworkshop wird als Erlebnis positiv gewertet, zumal sich parallel zur inhaltlichen Arbeit positive gruppendynamische Prozesse für das Orchester selbst entfaltet haben, die zunächst gar nicht intendiert waren. Doch gibt es immer noch große Unsicherheiten in Bezug auf das eigene Bestehen vor einer Schulklasse. Mit meinen Erfahrungen in Düsseldorf kann ich solche Vorbehalte nur gut verstehen, es erscheint mir schwer vorstellbar, eine ähnliche Klasse auch nur ansatzweise unter Kontrolle zu bekommen.
Der Zoo nimmt Gestalt an: Zwischenstand in Düsseldorf
Doch die Arbeit mit den Düsseldorfer Pestalozzi-Schülern geht gut voran.
Einige Wochen und Proben später besteht der akustische Zoo“ bereits aus einer ganzen Reihe von seltsamen Fabelwesen: trommelnden Raubkatzen und Killerfischen, Tieren mit selbstgebauten Didgeridoo-Riesenrüsseln, Schellenpferden, Flötenschlangen, Pickhühnern und Klavierkatzen.
So sind die Schüler und Schülerinnen gut vorbereitet, als sie einen Ausflug zur Geschäftsstelle und den Proberäumen des Ensembles musikFabrik NRW in Köln unternehmen, um dort ihre selbst ausgedachten Stücke mit den von Bernhard komponierten Parts für fünf Musiker und Musikerinnen des Ensembles musikFabrik zusammenzubringen.
Ablauf, Bühnenanweisungen und Gesamtdramaturgie wurden zwar nicht von den Kindern erdacht, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht mit genügend Herausforderungen zu kämpfen hätten. Für sie besteht nun die anspruchsvolle Aufgabe darin, innerhalb eines strengen Ablaufs selbstständig, ohne Dirigenten, zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen.
Innerhalb kürzester Zeit haben die Kinder nicht nur gelernt, eigene Ideen umzusetzen, sondern auch Fähigkeiten zur Selbstorganisation, Kooperation und zum Einhalten von Abmachungen und Regeln entwickelt. Ich bin erstaunt, welche Wegstrecke die Schüler in wenigen Wochen zurückgelegt haben.
In der Höhle des Löwen? - Orchestermusiker unter Schülern
Die Musiker und Musikerinnen des Beethovenorchesters stehen derweil kurz vor ihrem ersten eigenen Unterrichtsbesuch. Trotz aller jahrelangen Berufserfahrung und Routine ist die Nervosität vor diesem ungewohnten „Auftritt“ teilweise sehr groß. Doch alle Sorgen erweisen sich als unbegründet: Die für das Projekt ausgewählten jüngeren Schulklassen erweisen sich zunächst als äußerst kooperativ, aufmerksam und offen. In einem Fall haben wir es sogar mit einer Musikklasse zu tun, in der alle Kinder ein Instrument spielen. Das von Bernhard für den ersten Unterrichtsbesuch gestaltete Konzept muss umgeworfen werden, da die Kinder hier auch ohne vorbereitende Übungen von Anfang an dazu in der Lage sind, über die musikalischen Vorgaben des Rahmenkonzepts der Wassertropfensinfonie zu improvisieren.
Als Instrumentalanfänger sind sie sehr aufgeschlossen für neue Erfahrungen. Sie lassen sich ein auf das Ausloten der Klangmöglichkeiten ihrer Instrumente und erfinden mit Begeisterung fremde Klänge. Offensichtlich sind dies für die Kinder ganz ungewohnte Aktivitäten, gemessen am herkömmlichen Instrumentalunterricht, in dem es vorrangig um das Lernen „richtiger“ Spieltechniken geht.
Lediglich die aus China stammende Schülerin einer sechsten Klasse kann zunächst gar nichts anfangen mit diesen von ihr als „Kindergartenspiele“ empfunden Aktionen. Erst nachdem sie in Einzelarbeit eine eigene graphische Partitur entwerfen darf, die anschließend von den Orchestermusikern musikalisch interpretiert wird, zählt sie zu den engagiertesten Mitwirkenden.
Wand der Skepsis – die Arbeit mit einer 11. Klasse
Ganz anders die Situation in der einzigen älteren Klasse, die beim Bonner Projekt „Wassertropfensinfonie“ mitwirken soll. Die Wand der Skepsis zu Beginn des ersten Unterrichtsbesuch scheint bei den Elftklässern fast undurchdringbar, zumal die Schüler und Schülerinnen wenig über den Sinn und das Ziel des Projekts wissen. Die Hemmschwelle ist hoch, wo die Zehn- und Zwölfjährigen ihre Neugierde kaum zügeln konnten – beispielsweise beim Ausprobieren eines Instrumentes vor der versammelten Klasse – werden die Jugendlichen von intensiven Peinlichkeitsgefühlen beherrscht.
Die Ernsthaftigkeit, mit der die Orchestermusiker eigene graphische Partituren der Schüler umsetzen, lässt das Eis brechen und beseitigt langsam die abwartende Haltung, so dass die Jugendlichen sich zum Ende des ersten Unterrichtsbesuchs auf eine gemeinsame Vokalimprovisation unter Bernhards Anleitung einlassen.
Mitmachen auf eigene Gefahr: Generalprobe und Aufführung
Zurück nach Düsseldorf. Die Pestalozzischüler und –schülerinnen haben mittlerweile realisiert, dass sie ihr Werk in Kürze einem großen Publikum präsentieren werden und sind entsprechend motiviert. Die Generalprobe in der Düsseldorfer Tonhalle wird zum letzten Prüfstein, denn nun geht es darum, die ausgedachte Musik möglichst überzeugend zu präsentieren.
Ein Rollenspiel als Aufwärmübung – jeder der Schüler sucht sich eine Rolle aus, in der er dann vor versammelter Klasse einen Satz vorträgt – zeigt bereits zu Beginn, dass sich die Kinder erneut auf unsicherem Terrain bewegen. Manche Schüler ziehen die eigene Performance aus Unsicherheit ins Lächerliche. Letzen Endes stellt Bernhard sie vor die Entscheidung „Mitmachen oder Zugucken“, was durchaus seine Wirkung erzielt. Die letzten Störer reißen sich nun am Riemen. Bernhard macht das Gelingen der Aufführung nicht von seiner Person abhängig, sondern argumentiert vom Werk aus: Ein schlechtes Ergebnis bedeutet eine Blamage für die Schüler selbst, gelten sie doch als die eigentlichen Autoren des Werks. Die Präsentation vor Publikum, die nun gefährlich nahe gerückt ist, übt plötzlich ihre ganz eigene Autorität aus.
So gelangen wir zusammen zu einem schönen Endergebnis, das am 24. April die Besucher des Familienkonzerts in der Tonhalle ebenso begeistert wie die Schüler selbst.
Und auch die Aufführung der Bonner „Wassertropfensinfonie“ verläuft sehr souverän und für alle Beteiligten zufrieden stellend.
Trotz all dieser Erfolge bleiben für mich auch viele Fragen offen: Ist in dem Anspruch, Kindern nicht nur das Musikmachen zu ermöglichen, sondern darüber hinaus auch ein „künstlerisch“ durchdachtes Ergebnis zu erreichen, nicht auch eine gewisse ‚Weltfremdheit’ angelegt? Herrscht bei Bernhards Konzeption letztlich doch so etwas wie ein Diktat, möglichst fern der Pop-Tonalität zu klingen? Lenkt er nicht unauffällig, aber ebenso beharrlich die Arbeit in die ‚richtige’ Richtung eines experimentellen kompositorischen Konzepts?
Und gelingt es dabei, wirklich einen Eindruck von der Intention zeitgenössischer Komponisten zu vermitteln? Ist ein Erfolg sichtbar hinsichtlich der Verbesserung der Überlebenschancen der „Neue-Musik-Szene, wo doch die musikalische Realität der Jugendlichen so vollkommen anders aussieht?
Vor allem der knapp bemessene Zeitraum solcher Projekte lassen eine solche Zusammenarbeit möglicherweise nur zu einem Tropfen auf dem heißen Stein werden. Die Zeit reicht nicht aus, den Schülern und Schülerinnen wirklich einen Einblick in eine für sie inzwischen vollkommen fremde Musikkultur zu geben, die von völlig anderen Maßstäben und Wertigkeiten bestimmt wird.
Was bleibt, ist aber durchaus nicht wenig: Die Kinder erleben sich selbst - viele zum ersten Mal – singend oder Instrumente spielend auf der Bühne. Und sie erleben sich als Musik-Schaffende, auch ohne das in unserer Musikkultur dafür erforderliche Ausbildungssystem durchschritten zu haben.
Dieses Erlebnis schien mir während der Zeit meiner Hospitation das für die Kinder nachhaltigste Erlebnis zu sein, das, was sie wirklich beeindruckte.