Was bewegt die Stadt?
Gesänge - Gesichter- Geschichten aus Bielefeld
Eine Sammlung von Liedergeschichten und Fotoporträts von Jane Dunker (Fotos) und Bernhard König (Texte) anlässlich des Aktionstages "Mensch, Bielefeld!" am 10. Oktober 2009. Projektauftrag der Bielefeld Marketing GmbH im Rahmen von „Ab in die Mitte 2009“. In Zusammenarbeit mit Theaterwerkstatt Bethel und Antenne Bethel.
Einen Monat lang haben sich jugendliche und erwachsene Reporter aus dem Umfeld der Theaterwerkstatt Bethel auf eine Forschungsreise durch Bielefeld begeben, um die Lieder einer Stadt zu sammeln: Lieder, die ein Stück Biographie, eine besondere Geschichte oder Stimmung transportieren.


Entstanden ist dabei eine überbordende Sammlung von verrückten und alltäglichen, todtraurigen und heiteren, beklemmenden und berührenden Liedergeschichten. In den inszenierten Porträts der Fotokünstlerin Jane Dunker werden diese Geschichten zu einem Bilderbogen, in dem sich die Stadt in ihrer ganzen Vielfarbigkeit und Vielgestaltigkeit abbildet.


Zugleich bilden diese Bielefelder Liedergeschichten einen ergiebigen Fundus zur weiteren musikalischen und theatralischen Umsetzung. Am 10. Oktober 2009 werden diese Inszenierungen im Rahmen des Aktionstages „Ab in die Mitte“ zu hören und zu sehen sein. Eine Auswahl von Geschichten und Fotos wird im Programmheft dieses Aktionstages sowie auf großformatigen Plakatwänden veröffentlicht.
Ausführlicher Programmtext
Mitwirkende und Unterstützer
Die Liedergeschichten
Ausführlicher Programmtext
Von Bielefelder Menschen erzählt dieses Projekt: Von Menschen unterschiedlichster Generationen, Gesellschaftsschichten und Nationalitäten, von „Bethelanern“ und Innenstadtbewohnern, Alteingesessenen und Zugereisten.
Und von ihren Liedern: „Volks-Liedern“ in einem ganz ursprünglichen Sinn; gesungenen, erinnerten, gelebten Liedern jenseits des glatten Perfektionismus kommerzieller Massenproduktion. Liedern, wie man sie im Fußballstadium, in der Kirche oder unter der Dusche singt. Manchmal bleibt ein solches Lied hängen, wird zum persönlichen Lieblings- oder Lebenslied, verankert sich in einer Biographie und bleibt für den oder die Betreffende fortan untrennbar mit einer ganz besonderen Geschichte, Stimmung oder Erinnerung verknüpft: Erste Verliebtheit oder traumatische Abneigung. Tiefe Trauer oder überschäumende Lebenslust. Glückliche Kindheit oder beklemmender Anklang an dunkle Zeiten...
Stärker als im bloßen Erzählen und Erinnern sind in solchen „Lebensliedern“ oft sehr intensive Emotionen gespeichert: Uralte Menschen fühlen sich in ihre Jugend zurückversetzt. Gestandene Erwachsene werden plötzlich ausgelassen, albern oder verletzlich. Demenzkranke oder andere Menschen, die mit Sprache nur schwer zu erreichen sind, können „via Lied“ in Dialog mit ihrer Umgebung treten.

Einen Monat lang sind jugendliche und erwachsene „Liederreporter“ aus dem Umfeld der Theaterwerkstatt Bethel unter Anleitung von Bernhard König durch die Stadt gezogen und haben Bielefelderinnen und Bielefelder nach „ihrem“ Lied und der dazugehörigen Geschichte befragt: Auf der Straße und in der Universität, in Altenheimen und Sozialeinrichtungen, in religiösen Gemeinden und interkulturellen Begegnungszentren.

Parallel dazu wurden einige der Interviewten von Jane Dunker fotographisch porträtiert. In Zusammenarbeit mit den dargestellten Personen wurden Schauplätze und Situationen inszeniert, die in einem engen Zusammenhang zu den erzählten Geschichten stehen.
Gemeinsam bilden diese Materialien eine Art „virtuelles Bielefelder Lieder- und Geschichtenbuch“: Eine überaus persönliche und eigenwillige Sammlung, die die Stadt in ihrer ganzen Vielfarbigkeit und Vielfältigkeit abbildet.
Die Lieder und Geschichten stehen nicht für sich, sondern sind Kristallisationspunkt für Gespräche, Rückfragen, biographische Forschungsarbeit – und, davon ausgehend, für ein ganzes Bündel an künstlerischen Aktivitäten, die sich autonom und getrennt voneinander entwickeln, die aber alle auf ein gemeinsames Ziel hinstreben: Auf den Aktionstag „Mensch, Bielefeld!“ am 10. Oktober 2009.
Eine Stadt in Bewegung: Beiträge zum Aktionstag
Straßentheater-, Musik- und Tanzperformances an besonderen Orten in der Innenstadt. In verborgenen und öffentlichen Räumen; an Orten, die jeder Bielefelder kennt und solchen, die kaum einer je gesehen hat.
Fotografische Porträts Bielefelder Bürgerinnen und Bürger, die sich selbst und ihr persönliches „Lebenslied“ in Szene setzen: Im Programmheft des Aktionstages und an verschiedenen Stellen in der Stadt auf großformatigen Plakaten.
Ein musikalischer Sternmarsch in der Abenddämmerung: Bläserchöre, Sambaprozessionen, Kinderzirkusgruppen ziehen spielend durch die Altstadt, ihre Wege kreuzen sich und bilden ein sich verdichtendes Netz rund um die Neustädter Marienkirche.
Auf dem Kirchplatz dann: Eine musikalische Begegnung all dieser Gruppen. Aus der vorangegangenen, zufälligen Vielstimmigkeit wird eine auskomponierte „Polyphonie der tausend Lieblingslieder“, in die jeder einstimmen kann.
Und zum Ausklang: Ein gemeinsames Konzert Bielefelder Chöre in der Marienkirche. Hochkarätige Chorkompositionen, zwischen denen, in kurzen Intermezzi, letzte Anklänge an einen bewegten Tag aufschimmern.
All diese Beiträge zum Aktionstag am 10. Oktober können auf ganz unterschiedliche Weisen erlebt werden: Als amüsante oder irritierende Belebung des öffentlichen Raumes, in die man als Passantin oder Passant zufällig hineingeraten ist. Als Teil eines bunten Straßenfestes, durch das man sich treiben lassen und von dem man sich überraschen lassen kann. Als gezielt aufgesuchte Einzelveranstaltung (beispielsweise: für die Besucher des abendlichen Kirchenkonzertes), das durch ein buntes „Vorprogramm“ eingeleitet wird.
Oder auch: Als ein groß angelegtes, innerstädtisches „Gesamtkunstwerk“, dessen einzelne Bestandteile durch ein Netz von „roten Fäden“ miteinander versponnen sind. Ein- und dieselbe Geschichte, ein- und dieselbe porträtierte Person kann auf verschiedenen Ebenen auftauchen: Als Stoff einer Straßenperformance, als musikalische Inszenierung in der Straßenbahn, als Abbildung auf einer Plakatwand oder als Bläserarrangement im Rahmen des Sternmarschs.
Konzipiert werden die einzelnen Beiträge zu "Was bewegt die Stadt" von zahlreichen Bielefelder Akteuren unter der künstlerischen Gesamtleitung von Matthias Gräßlin (Theaterwerkstatt Bethel) und Ruth Seiler (evangelisches Stadtkantorat Bielefeld).
Mitwirkende und Unterstützer
Fotos: Jane Dunker
Idee und Textredaktion: Bernhard König
Organisation: Tanja Krüger
Betreuung Reportageteams: Kika Kern, Tanja Krüger
Texttranskriptionen: Nicole Zielke
Die Reporterinnen und Reporter:
Kai Büchner, Jane Dunker, Madeleine Fredebeul, Kika Kern, Ronja Kiesel, Bernhard König, Ruth Kordbarlag, Laura Kreutz, Tanja Krüger, Marie Küpers, Stella Middeldorf, Birte Moser, Gaye Mutluay, Lea Neuberger, Nicole Pasuch, Lara Sariaydin, Matze Schmidt, Alfred Schultz, Gregor Scturz, Jacqueline-Ann Smith, Karsten van Wulfen, Pinar Yildiz, Nicole Zielke
Produktion
Mensch, Bielefeld! ist eine Veranstaltung der Bielefeld Marketing GmbH im Rahmen des Landeswettbewerbes „Ab in die Mitte: City-Offensive NRW“. Die Liedersammlung wurde realisiert in Zusammenarbeit mit Theaterwerkstatt Bethel und Antenne Bethel.

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Mit freundlicher Unterstützung durch:
Altenhilfebereich der Stiftung Sarepta
Bielefelder Laborschule
Bielefelder Tisch e.V.
Caroline Oetker Stift
Haus Emmaus (Stiftungsbereich Behindertenhilfe)
Hospiz e.V. Bethel (Haus Zuversicht)
Internationales Begegnungszentrum Friedenshaus e.V. (IBZ)
Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld
Universität Bielefeld
Verein zur beruflichen Ausbildung und Qualifizierung Jugendlicher und Erwachsener (BAJ e.V.)
Die Liedergeschichten (Auswahl)
ABELLA, ABEY
Ich war mit 23 in Lybien, als das Lied „Abella, abey“ von Abraham Afewerki herauskam. Meine Eltern waren während des Unabhängigkeitskrieges in Eritrea verfolgt worden und die lybische Regierung hatte Stipendien für junge eritreische Flüchtlinge. Das Lied war für uns Eritreer ein Stück Heimat. Es handelt von Sehnsucht. Viele Kinder haben ihre Familien verloren. Viele hatten Sehnsucht nach ihrer Heimat.
Heute fühle ich mich nicht mehr als Eritreer. Ich bin Weltbürger. Ich denke, dadurch, dass wir Flüchtlinge sind, geschieht das automatisch. Man muss die Heimat verlassen, muss sich anpassen, immer weiter gehen. Es war für mich ein langer Prozess, aber wichtig war Bob Marley. In Afrika kannte ich keinen Reggae. In Berlin, in den 80er Jahren, gab es eine jamaikanische Disko. Ich bin da hingegangen und habe langsam kapiert, was Reggae ist.
Bob Marley hat mir mit seiner Message meine Ohren geöffnet. Hat einfach meine Seele aufgemacht. Seitdem setze ich mich dafür ein, dass die Mauer zwischen den Menschen, diese Abgrenzung fällt. Die Völker gehören zusammen.
Afom Gebremariam, 52 Jahre, Kulturveranstalter und DJ
ABENDSTILLE ÜBERALL
Abends, wenn`s dunkel war, mussten wir immer über den Hof gehen. Auf dem Oberhof war das, da hatten wir das Küchenhaus, und das andere war das Holzhaus. Und da mussten wir immer rüber wenn`s dunkel war. Wir haben uns meistens eine Taschenlampe mitgenommen. Und manchmal, wenn ich Angst hatte im Dunkeln, habe ich dieses Lied gesungen.
Anneliese Ibels, 85 Jahre
AIM AT THE TOP
Als ich letzte Woche ein Bewerbungsgespräch hatte, da lief im Hintergrund, als der Typ angerufen hat, ein Lied, das heißt "Aim at the top", also „ich will ganz nach oben“. Das hat ganz gut gepasst. Naja, erstmal abwarten, was passiert. Und wenn ich dann den Ausbildungsplatz kriege, dann voll aufdrehen und das Lied hören! Dann gönnen wir uns alle einen erquickenden Luftsprung! Aim at the top!
Wofür ich mich beworben habe? Als Dachdecker.
Daniel Förster, 20 Jahre, Azubi
ALLE MEINE ENTCHEN
Ich sing das immer so: „Alle meine Entchen schwimmen im Spinat, schwimmen im Spinat, rutschen von der Gabel, machen den Spagat.“
Oer so: „Alle meine Entchen schwimmen in dem Klo, schwimmen in dem Klo, rutschen wieder raus und rutschen auf dem Po.“ Das find ich immer witzig.
Celestino Gig Di Carlo und Tarkan Güreli, 6 Jahre
ARMINIA – UNSER HERZ SCHLÄGT NUR FÜR DICH
Ich gehe so gerne nach der SchucoArena. Wenn sie Heimspiel haben, gehe ich da immer hin. Wenn Arminia gewinnt, bin ich froh, dass sie gewonnen haben. Bevor sie anfangen zu spielen, wird immer das Lied von Arminia Bielefeld gesungen: „Arminia Bielefeld – Heut ist der Tag endlich so weit!“
Volker Hellwig, 46 Jahre, Lampenbauer
ARMINIA – UNSER HERZ SCHLÄGT NUR FÜR DICH
Ich war mit Papa auf der Alm. Block A, zweite Reihe. Die Fans von Arminia haben die Mannschaft mit Liedern angefeuert. In der 2. Halbzeit haben die Cottbusser plötzlich im kleinen Block dahinter Feuer gemacht. Zwei Arminia-Fans wurden verletzt und kamen ins Krankenhaus. Ein dritter ist gestürzt und gestorben
Janine Krug, 18 Jahre, Schülerin
AUF DER EISENBAHN
Als Christina zwei oder drei Jahre alt war, hatten wir in der Kindergrupe solche viereckigen Kästchen mit Rollen dran, wie eine kleine Eisenbahn. Wir haben die Kinder alle reingesetzt und umhergeschoben und dann dieses Eisenbahnlied gesungen: Auf der Eisenbahn steht ein schwarzer Mann, der macht Feuer an, dass man fahren kann.
Dann habe ich immer davon geträumt, dass Christina auch mal gehen könnte. Nun ist es nicht so.
Rosemarie Pulver (Arzthelferin, 59 Jahre) mit Tochter Christina (29 Jahre)
CONAN
Die Geschichte im Lied handelt von einem Teenager, der heißt Shinichi. Shinichi hat eine Röhre auf den Kopf gekriegt und bekommt eine Tablette mit Wasser zu schlucken. Die Polizeit findet ihn, aber er ist verändert, nämlich viel kleiner: Geschrumpft zu einem Neunjährigen.
Wenn ich in meinem Zimmer bin, spiele ich diese Geschichte manchmal nach. Ich bin dann der Shinichi. Ich sitze auf meinem Bett und stelle mir vor, das wäre Gras. Dann kommt die Polizei, das sind Luftmenschen, und die holen mich dann. Die führen mich von meiner Bett-Wiese ins Krankenhaus. Dann stelle ich mir vor, dass meine Luftfreundin kommt. Sie heißt Ruu. Sie nimmt mich dann mit.
Berit Meiners, 24 Jahre, Elektrogerätemonteurin
DAYLIGHT
Auf Wangerooge war das, eine Klassenreise in der 6. Klasse. Wir hatten eine Wanderung gemacht und haben uns auf die Dünen gelegt, mein Freund und ich. Wir hatten einen kleinen Kassettenrekorder, haben das Lied angemacht und uns den Sonnenuntergang angeguckt.
Wir waren auch ein bisschen traurig, weil mein Freund an dem Tag eine Absage von einem Mädchen bekommen hatte. Es war ein sehr emotionaler Tag, er hat zum Teil geweint, ich habe versucht, ihn aufzubauen, und das floss alles in dieses eine Lied ein.
Norman Eryk Zlotnicki, 21 Jahre, Student
DER OPTIMIST
„Da geht mein Baby und sie ist nicht mehr allein
doch wenn sie glaubt, dass sie einfach so 'nen andern lieben kann...
ist sie im Irrtum - was fällt ihr eigentlich ein
das werd ich unterbinden, werd' ein Mittel finden...
damit sie zurückkommt - und dann werd ich sie verwöhn`
sie wird nur noch an mich denken - wird mir ihre Liebe schenken
das wird schön - das wird schön - das wird schön.“
(Die Ärzte)
Als ich 14 Jahre alt war, hatte ich einen Freund, den ich sehr liebte. Doch er trennte sich von mir und hatte eine neue Freundin. In dieser Situation und lange danach hörte ich diese Zeilen von den Ärzten und dachte daran, wie es wird, wenn wir wieder zusammenkommen. Nun, vor einem Jahr (mit 21Jahren) wurden wir wieder ein Paar und sind seitdem sehr verliebt.
Lea Neuberger, 22 Jahre, Studentin
DIE FAHNEN HOCH, DIE REIHEN FEST GESCHLOSSEN
In Lotsch war ja Garnisionsstadt von den deutschen Soldaten, und da sind sie durch die Straßen marschiert, das muss 1943 gewesen sein, und haben gesungen "Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen. SA marschiert mit ruhig festem Schritt". Und dann heißt es in dem Lied: "...die Rotfront und Reaktion erschossen...", und ich wusste nicht, was "Reaktion" ist und bin nach Hause gekommen und habe gefragt: Was heißt Reaktion?
Da hat mein Vater gesagt: „Wenn ich dir eine knalle, dann reagierst du sofort“. Ja, das war ganz klar und deutlich erklärt.
Der war überhaupt ein Urvieh. Wie der Soldat Schwejk.
Waldemar Rosner, 74 Jahre, ehemaliger Techniker
DIE FAHNEN HOCH, DIE REIHEN FEST GESCHLOSSEN
Wir sind mit den Jungmädels, gar nicht so unbegeistert, durch Stuttgart gezogen und haben lauthals und begeistert gesungen. Die Führerinnen und die Fahne voraus und das ganze Volk hinterher. Ich habe damals nicht allen Texten hinterhergedacht, muss ich sagen.
Etwas später war der Zwiespalt größer, weil da meine älteren Brüder eingezogen wurden. Die waren dann beim Arbeitsdienst und beim Militär und das war, auch wenn ich erst zehn Jahre alt war, ziemlich klar, dass das auf Krieg zusteuert. Das fand ich schon blöd, wenn wir dann lauthals gesungen haben „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“.
Diesen Spagat habe ich schon mitgekriegt. Gut, ich brauchte ja nicht mitzusingen. Aber sonst gab in meinem Alter keine Möglichkeit mehr, der Sache auszuweichen. Es war einfach verpflichtend.
Schwester Gerda Schaible, 80 Jahre, Diakonisse
DIE FAHNEN HOCH, DIE REIHEN FEST GESCHLOSSEN
Aber was das Schöne an der Hitlerjugend war, da kann man heute sagen was man will: Wir haben auch sehr viel gesungen. Die schönsten Erinnerungen habe ich an die gemeinsamen Singstunden. Ich kenne sehr viele Lieder, und alles aus dieser Zeit.
Die waren nicht alle tendenziös. Die meisten nicht. Es gab einige. Schwarzbraun ist die Haselnuss. Das ist aber nicht politisch. Oder das Horst-Wessel-Lied. „Die Fahnen hoch“. Aber das kam ja wirklich nur ganz selten zum Einsatz.
Und als junger Mensch hat man natürlich die anderen Dinge nicht so gesehen, die nachher dann...
Naja.
NN, Renterin, 88 Jahre
DREI WEISSE BIRKEN
Der Herr Magull ist Stammkunde bei uns. Bei jedem Wetter steht der hier. Über achtzig Jahre ist der schon alt, war früher Bahnarbeiter. Und meine Kollegin hier, die kommt aus Polen. Hat dort Buchhalterin gelernt, und jetzt verkauft sie hier Würstchen bei uns. Und sie kannte ja gar keine deutschen Volkslieder. Da hat ihr der Herr Magull, um ihr zu Weihnachten eine Freude zu machen, ein Lied geschenkt. Auf CD. „Drei weiße Birken in meiner Heimat stehn, drei weiße Birken, die möchte ich wiedersehn“. Und nun spielt sie das zu Hause manchmal. Oder singt es hier bei der Arbeit. Natürlich nur, wenn gerade mal nicht viel los ist.
Marianne Kirchner, 60 Jahre, Wurstverkäuferin
DU MUSST AUF DEIN HERZ HÖREN
Seit ich klein war, wurde ich abgegeben zu Pflegeeltern und da wollten meine richtigen Eltern nichts von mir wissen und das macht mich traurig. Es macht mich auch traurig, dass die nicht klar kamen mit meiner Epilepsie und mit meiner Krankheit. Manchmal habe ich Austicker und das macht mir dann auch selber zu schaffen, ich habe dann Angst, dass ich auch meine Pflegeeltern verliere.
Und jetzt wollen meine Eltern mich auf einmal wiederhaben und ich muss ja selber auch klar kommen – und deswegen muss ich auf mein Herz hören. Von daher höre ich dieses Lied von Sido manchmal. Ich bin froh, dass ich Pflegeeltern gefunden habe, oder dass die mich gefunden haben.
D.G., 22 Jahre, Gärtnerei-Hilfsarbeiterin
ECHOES
Ich habe keine Eltern, ich war bei Pflegeeltern, und da war ich eigentlich bestimmt für die Nachfolge des Erbes. Das war ein Gartenbaubetrieb. Ich durfte gar nichts selbst bestimmen, ich musste Knickerbocker tragen, Trachtenschuhe und so was, was ich gar nicht wollte.
Mit 14 Jahren wurde mir dann eröffnet: „Wir sind nicht deine Eltern, aber wir wollen dich adoptieren.“ Und da habe ich gesagt, nein, ich will aber nicht adoptiert werden. Das war dann mein Weg in die Jugendanstalt. Lehre zu Ende machen war nicht, das hätte noch ein halbes Jahr gebraucht. Ich bin dann da ausgebrochen und abgehauen, habe gesagt: Was soll ich hier? Ich habe mit den Jungs nichts zu tun, ich habe ja keinen umgebracht oder was geklaut.
Dann war ich mit 19, 20 auf einem Festival. Das hat mich verändert. Das war für mich so ein Freiheitsschnitt. Aus dem Gefängnis raus in die Freiheit. Erst mal bin ich da hingetrampt, das war schon mal spannend, das erste Mal für mich, dass ich überhaupt trampe. Habe dann dort gleich diese LP gekauft. Pink Floyd. Das erste Album, was ich überhaupt gekauft habe, was ich mir kaufen durfte. Die hab ich heut noch in meinem Schrank stehen. Und das ist für mich prägend gewesen. Der Schritt, einfach zu sagen: So, das ist jetzt meine Freiheit hier, ich stehe auf eigenen Füßen.
Beruflich habe ich dann später sechs Jahre Psychiatrie gemacht, sechs Jahre Altenpflege, sechs Jahre stationäre Erziehung. Und jetzt mache ich selber drei private Erziehungsstellen. Rundum selbstständig.
Peter Wilhelm, 55 Jahre, Erzieher
EIN FESTE BURG IST UNSER GOTT
Mein Vater ist Pfarrer gewesen und gehörte zur bekennenden Kirche. Und wenn bei uns zu Hause die Treffen waren, musste ich meiner Mutter immer melden, wenn die Gestapo kam. Weil sie fanden, dass es am ungefährlichsten war, wenn sie die Kleine da hinschickten. Meine Mutter ging dann in den Gemeindesaal, wo die ganzen Pastoren sich versammelt hatten, und hat mit einem Wäschekorb die gefährlichen Akten eingesammelt, Und sie kriegte dann das Wort, wie man den Landesbischof warnen konnte, dass er bitteschön nicht erscheint, weil sie den dann ja geschnappt hätten.
Später stand der Landesbischof unter Hausarrest, der hatte gegen alles mögliche rebelliert, erstens gegen die Judenfrage und zweitens dagegen, dass die Behinderten umgebracht wurden. Er ist bis nach Berlin zu Hitler gefahren. Und nun durfte er sein Haus nicht mehr verlassen, und alles, was einigermaßen hinter ihm stand, hat sich vor dem Haus versammelt, und da ist meine Mutter mit mir hingegangen.
Es war ganz still und dann hat irgendjemand angefangen: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Ich weiß nicht, wer. Ich war ja im großen Gewühle. Ich weiß nur, dass ich lauthals mitgesungen habe. Es waren genügend da von diesen Gestapo-Leuten und SA-Leuten, uniformiert oder nicht uniformiert, die hätten unterbrechen können. Aber es wurde nicht unterbrochen. Auch nicht bei der Strophe „und wenn die Welt voll Teufel wär’ und wollt uns gar verschlingen“.
Jeder konnte wissen, was damit gemeint ist. „Der Fürst dieser Welt, ein Wörtlein kann ihn fällen“. Jetzt sagen Sie bloß, dass das nicht deutlich ist. Aber das wurde von Anfang bis Ende gesungen. Da hat keiner unterbrochen.
Schwester Gerda Schaible, 80 Jahre, Diakonisse
ENTA OMRI ("DU BIST MEIN LEBEN")
Wenn wir in Streit sind, dann hören wir oft spontan ein Lied von Om Kalthoum. Romantische Musik aus den 70er Jahren, eine sehr berühmte Sängerin. Die erzählt darüber, wenn es zwischen Mann und Frau ein Problem gibt, oder Streit. Wir hören so ein Musikstück, dann halte ich die Hand von meiner Frau und die Sache ist schon erledigt. Das hilft manchmal sehr gut.
Batal Osama; 37 Jahre, Arzt
Hafez Jihan, 33 Jahre, Apothekerin
FOREVER YOUNG
Die erste Single, die ich gekauft habe von meinem ersten eigenen Taschengeld, an der hing ich sehr. Das war im zarten Alter von acht, ich war mit meinem ältesten Cousin in der Stadt und habe eine Rod-Stewart-Single gekauft, „Forever young“, die damals gerade erschienen war.
Ein paar Jahre später bin ich mit eben diesem Cousin auf einem Rock-Festival gewesen, das erste größere Konzert meines Lebens, mit Rod Stewart eben, Tina Turner, Joe Cocker auf einem riesigen stillgelegten Militärflughafen in der Nähe von Mönchengladbach.
Und wie’s der Teufel so wollte, haben mein Cousin und ich unser Zelt dahin gestellt, wo das überhaupt nicht hingehörte und haben es dann mitten in der Nacht nicht wiedergefunden. Bei dem Zelt hatten wir unsere ganzen Papiere gelassen, Ausweis, Geld, alles was man sich so vorstellen kann. Wir haben uns die Nacht um die Ohren geschlagen, haben uns dumm und dämlich gesucht und irgendwann hatte ich diesen Festivalcharakter völlig vergessen, ich war völlig übermüdet, ich war fertig, den Tränen nah.
Und irgendwann, während wir da saßen und uns unserer misslichen Lage klar wurden, begann dann das Rod-Stewart-Set. Und das erste Lied war „Forever young“. Wir haben ihn nicht gesehen, wir haben ihn nur über Lautsprecher gehört, aber irgendwie war das in dem ganzen Schlamassel was sehr tröstliches, gerade dieses Lied dann doch noch zu hören.
Simon Füchtenschnieder, 29 Jahre, Student
GOTT HAT HUMOR
Ich höre am liebsten deutschen Hip Hop. Am allerliebsten Hollywood Hank und JAW. „Du bist der lebende Beweis: Gott hat Humor.“ Das ist auf dem neuen Album, was die rausgebracht haben und es geht halt um eine Person, die sich für etwas ausgibt, was sie nicht ist. Und deswegen hat Gott halt Humor.
Mein Cousin und ich haben nur fünf Tage Altersunterschied. Früher waren wir unzertrennlich. Jeden Tag, wenn ich ihn jetzt sehe und wenn ich dann das Lied nebenbei höre, dann passt das alles genau auf meinen Cousin. Er gibt sich halt auch als etwas aus, was er nicht ist. Er verstellt sich halt.
Florian Weißberg, 18 Jahre
HEIDSCHI BUMBEIDSCHI
Eines Tages, ich gehörte zur Singschar, wurden wir abkommandiert auf einen Friedhof. Wir sollten am Grabe eines Kindes singen, das auf der Flucht erfroren war. Und was sollten wir singen? „Heidschi bummbeidschi, schlaf lange“.
Die Hitlerjugend stand da und schoss Salut über das Grab, mit Pistolen. Und die Mutter heulte immer: „Mein Herrgott! Mein Herrgott!“.
Und wir sollten ganz laut immer dieses „Heidschi bummbeidschi, schlaf lang“ dagegen ansingen.
Else Nathalie Warns, 79 Jahre, Theaterpädagogin
HERE COMES THE SUN
Das Verrückte ist ja, dass man jetzt im Alter all dieser alten Lieder wieder habhaft werden kann. Dass man sich die Sachen alle herunterladen kann. Und so habe ich jetzt auf meinem persönlichen I-Pod die Songs von meinem ersten Kassettenrekorder, den ich bekam, als ich 11 Jahre alt war. Manchmal höre ich diese Lieder ganz versonnen und ärgere mich, wenn meine Kinder dabei laut sind – denn denen sind diese alten Songs natürlich völlig egal. Ich habe deshalb zu Hause einen eigenen Raum, den ich 70er-Jahre-mäßig eingerichtet habe und wo ich machen kann, was ich will. Natürlich im Keller. Alle Männer sind ja im Keller.
Dort höre ich die alten Rocksongs. Massenweise Songs. Nennen Sie mir einen Titel, dann sage ich: Ja, Freibad Hillegossen, Sommer 1977, zum ersten Mal geknutscht mit Heike. Oder so.
Analog zu meiner ersten Kassette habe ich auf meinem I-Pod auch schon die Musik für meine eigene Beerdigung. Manchmal wechsele ich ein Stück aus, aber fünf bis sechs Titel bleiben immer. Einige Jazztitel, einige langsamere Lieder – aber ich weiß genau: Nachdem der Sarg heruntergelassen wird, soll „Here comes the sun“ von den Beatles erklingen. Und danach sollen alle friedlich nach Hause gehen und sich besaufen.
Ingolf Lück, 51 Jahre, Comedian und Schauspieler
I DID IT MY WAY
Das hat der Hermann Prey gesungen, das ist ein Lied, das zu Herzen geht, wenn man das hört. Mein Mann liebte das auch, seitdem ich es ihm geschenkt hatte.
Meinen Weg gehen: Das hat mich schon mein Vater gelehrt. „Geh deinen Weg so gut es geht!“ Das ist oberstes Gebot, auch am Theater. Disziplin und immer Haltung. Immer nur lächeln. Ich bin 22 Jahre im Ballett gewesen und ich habe mich nie beklagt, wenn die Zehen blutig waren. Nur bei meiner Mutter, da habe ich geweint.
Alice Kuhnert-Hüsing, 81 Jahre, ehemalige Tänzerin Städtische Bühnen
I LOVE HIM, AND HE DOESN'T KNOW
Ich hatte eine Situation als Studentin und Emigrantin in England, wo ich nicht mehr weiterkam und entscheiden musste, ob ich wieder nach Afrika zurückfahre oder schnell heirate. Was damals alle gemacht haben. Ich bin zu Anwälten gerannt und alle haben mir empfohlen, dass ich bald heiraten sollte, egal wen. Ich kam damit nicht klar, hatte viele moralische Konflikte, weil mir die Ehe einfach sehr wichtig ist. Ich weiß noch, wie ich als Vierzehnjährige eine Liste gemacht habe, alle Eigenschaften, die mein Mann haben sollte, und dafür gebetet habe und immer wieder Gott daran erinnert habe: So soll mein Mann sein!
Ich habe daraufhin einen Brief an meine beste Freundin in Deutschland geschrieben, die mit mir in Afrika zur Schule gegangen ist, und ihr alles berichtet. Sie hat mich dann wenige Tage später in England angerufen und meinte zwischendurch: Ach, übrigens, ich hab mit Stefan gesprochen, der würde dich heiraten. Ich so: Waas? Stefan war ihr Cousin, ich kannt ihn flüchtig. Also, das Ganze war sehr, sehr schräg.
Wir haben das dann geplant und irgendwie durchgezogen, haben alles inszeniert wie eine richtige Hochzeit und das Ganze sogar geschäftlich geregelt, mit einem kleinen Vertrag: Deins ist deins, meins ist meins. Am Tag der Hochzeit war ich völlig am Zittern, er war die Ruhe pur. Bis zum Standesamt. Dann wurde er auch nervös, unsere Hände waren schwitzig und wir waren beide völlig außer uns.
Am nächsten Tag musste er zurückfahren nach Dover, weil er mit dem Auto nach England gekommen war. Meine Freunde haben mich überredet, die Rückfahrt zu begleiten, ich bin sehr widerwillig mitgefahren, weil ich die ganze Sache beendet haben wollte. Dann war so eine unglaubliche Stille da im Auto, ich hatte ein paar Kassetten für meine beste Freundin aufgenommen und auf einer dieser Kassetten war dieses Lied von Zhane: "I love him, but he doesn't know". Und dieses Lied war, als würde es aus dem Radio herausgesprungen kommen, weil seine Worte die Situation so genau beschrieben haben. Ich wusste nicht: Liebe ich diesen Mann? Ich denke, ich liebe ihn, und er weiß es nicht. Was wird er wohl tun, wenn er weiß, wie ich fühle?
Als wir "Tschüss" gesagt haben und unsere getrennten Wege gegangen sind, sind wir beide in Tränen ausgebrochen. Und ein paar Tage später kam ein Anruf aus Deutschland und mein Mann hat mir in seinem gebrochenen Englisch offenbart, dass er sich in mich verliebt hat.
Ab da fing eine richtig schöne Liebesgeschichte an. Wir sind jetzt zehn Jahre verheiratet.
Juliet Gehring, 34 Jahre, Fremdsprachenkorrespondentin
ICH BIN DIE CHRISTEL VON DER POST
Mein Vater war ja Operettensänger. Und hat natürlich zu Hause immer diese Operettenlieder geübt, in unserer Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung in Sieker, mit einem Kissen vor dem Mund. Ich habe die auch gerne gesungen. Kam dann in den Stimmbruch und habe dann immer die Frauenpartien gesungen. Die „Christel von der Post“ und ähnlich Dinge.
Ingolf Lück, 51 Jahre, Comedian und Schauspieler
ICH LIEBE DICH
Dieses Lied von Beethoven haben wir nach dem Krieg entdeckt, als wir frisch verlobt waren.
Wir kennen uns seit 1940. Ich war damals Jurastudent und du warst 16, und dann kam ich in den studentischen Erntedienst zu einem Bauern nach Beckendorf. Und dann sagte mir die Bäuerin eines Tages, da kommt meine Nichte. Dann kamst du da so die Treppe rauf, auf mich zu, und ich dachte: Mensch, das ist aber ein schönes Mädchen.
Dann haben wir uns drei Jahre gar nicht gesehen, von 1944-48, er war da in der Gefangenschaft in Frankreich. Die haben da eine kleine Lagerkappelle gegründet, 12 Mann, und in der Zeit hat er auch einen langsamen Walzer komponiert und den hat er mir geschenkt, als er zurückkehrte:
An dich will ich mein ganzes Herz verschenken.
An dich, wie an den liebsten Menschen denken.
Will dich in Freud und Schmerz ganz verstehen,
glücklich mit dir durchs Leben gehen.
Nun sind wir seit 58 Jahren verheiratet. Und lieben uns immer noch.
Irmgard Maiberg, 85 Jahre, ehemalige Redaktionssekretärin
Dr. Hermann Maiberg, 88 Jahre, ehemaliger Fachhochschuldozent
ICH WAR NOCH NIEMALS IN NEW YORK
Er:
Meine frühere Frau ist vor drei Jahren verstorben. Wir mochten beide unheimlich gerne deutsche Schlager. Die Kastelruther Spatzen zum Beispiel. Ich konnte das die ersten ein, zwei Jahre nach ihrem Tod gar nicht hören. Das geht sehr ans Emotionale.
Sie:
Für mich ist es "Yesterday" von den Beatles, das mich an meinen früheren Mann erinnert. Auch die anderen Beatlessongs. Die Beatles haben uns während unserer ganzen Ehe begleitet. Doch jetzt kann ich diese Musik auch nicht mehr hören, weil dann zu viele Erinnerungen hochkommen.
Er:
Und was unseren unterschiedlichen Musikgeschmack betrifft: Irgendwie arrangieren wir uns.
Sie:
Wir versuchen auch Neues. Ich habe meinen Mann zum Chor gebracht, und im Moment singen wir beide sehr gerne „Ich war noch niemals in New York“. Das gefällt uns beiden.
Er:
In New York waren wir tatsächlich noch nie. Das ist schon ein Wunsch, da mal zusammen hinzufahren.
Sie:
Aber die Erinnerung ist immer dabei. Da ist es gut, zu wissen, dass der andere Verständnis hat für die eigene Trauer. Weil wir beide diese Erfahrung miteinander teilen. Es ist fast, als würde man zu viert leben.
Iris Bender, 56 Jahre, Hausfrau
Reiner Harbig, 64 Jahre, Regierungsamtmann a.D.
ICH WERD MICH ÄNDERN
Ich hatte Streit mit meinem Freund. Der war mir damals zu extrem. Wir haben in dieser Zeit immer ein Lied von „4 Promille“ gehört. Am Anfang heißt es da noch: „Ich werd mich ändern“. Und am Ende dann: „Ich wird mich niemals mehr ändern!“ So in dem Sinn: Ich bin stolz, ein Punk zu sein! Scheiß auf die Gesellschaft!
Für ein Dreivierteljahr bin ich dann zu meiner Familie zurück und habe mein Abi zu Ende gemacht. Dann hatte ich Sehnsucht nach meinem Freund. Sehnsucht nach der Straße. Jetzt bin ich wieder hier.
Irgendwann will ich Italienisch und Englisch studieren. Die Bewerbungen laufen schon.
Nudel, 21 Jahre (mit Ratte "Mozarella")
IM FRÜHTAU ZU BERGE
Früher in der Schule, wenn wir Wanderungen gemacht haben, haben wir das immer gegrölt. Die Mädchen gingen dann für sich und wir Jungens übertönten sie alle immer. Wir konnten ja lauter schreien als die Mädchen, das ärgerte die dann. Wenn man Ärger wollte, sang man ein anderes Lied, und wer am lautesten war, bei dem mussten alle mitsingen. Meistens mussten die Mädchen mit uns mitsingen.
Dann wollten wir nach Holzminden, da war die Weser und da fuhr damals eine Fähre, und dann haben wir die Fähre just verpasst und kamen nicht mehr drauf. Die fuhr nicht immer hin und her, die fuhr immer nur, wenn genug Volk da war. Oh, da haben wir lange gestanden und haben vor Wut immer dieses Lied gesungen, "im Frühtau zu Berge", weil die Fähre weg war. Der Elmar fing an mit seiner Gitarre und dann haben wir alle gegrölt und gegrölt, immer das selbe Lied hintereinander, bestimmt eine halbe Stunde lang. Bis die Fähre wieder da war.
Herr Rabbe, 70 Jahre
IM FRÜHTAU ZU BERGE
Ich war auf der Gadderbaumer Volksschule und damals hat man „Singen“ in der Volksschule gehabt. Und die Lehrerin – das war das Fräulein Steinmeier, die auch gerne mal den Rohrstock benutzte – hat mich immer gefragt: „Klaus, willst du singen oder eine Fünf haben?“ Ich habe mich immer für die Fünf entschieden.
Und als ich dann zur Realschule kam, da sagte sie: „Klaus. Tu mir den Gefallen. Sing doch einmal.“ Und dann hab ich gesungen. „Im Frühtau zu Berge“, ich weiß es noch. Sie sagte nur zu mir: „Klaus, es war eine Fünf, aber für den Mut kriegst du ’ne Vier.“
Klaus Kersten, 59 Jahre, Hilfsbibliotheksassistent
JAPON BALIKCISI
Meine Mutter hat gerne Lieder des Sängers Ruhi Su gehört. Die Texte waren von Nazim Hikmet, einem kommunistischen Dichter, der im Exil gestorben ist. Ich sage mal: die türkische Antwort auf Berthold Brecht. Und Ruhi Su hat seine Gedichte in Liedform gesungen. Meine Mutter hat die gerne gehört und mein Vater auch. Und mich haben die Gedichte von Nazim Hikmet auch geprägt.
Es gibt eine Musikgruppe namens Ezginin Günlüğü, das ist übersetzt „Tagebuch von Ezgi“, und die singen zum Beispiel über einen japanischen Fischer. Auch ein Text von Nazim Hikmet. Da geht es darum, dass Amerika die Atombombe geworfen hat: die Fischer können von ihren Fischen nicht essen, die sind alle verseucht und unsre Hände sind verseucht, wir sind verseucht. Also das erzählt eine wahre Situation, und das berührt einen.
Elif Demir, 29 Jahre, Studentin
KOMMT EIN VOGEL GEFLOGEN
Ich habe die Szene noch genau vor Augen: Eine Nachbarin musste meiner Mutter die Nachricht überbringen, meine Mutter zitterte am ganzen Körper und brach dann zusammen.
Und es gibt ein Kinderlied, wir waren ja damals in Thüringen, „Kommt ein Vogel geflogen, bringt ein Brieflein, von der Mutter einen Gruß“, und dann hab ich immer meinen Vater da eingesetzt: „Bringt vom Vater einen Gruß, denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hierbleiben muss.“
Hilde Osterkamp, 74 Jahre, Hausfrau
LALELU, NUR DER MANN IM MOND SCHAUT ZU
Ein schönes Schlaflied. Das erinnert mich an den ersten Schlaf. Und an meine Oma, an mein schönes Bettchen. War ein schönes Bett. Mit einem Himmel drüber. Ein Himmelbett.
Wolfgang Hasbach, 71 Jahre
LILI MARLEEN
Das ist eigentlich eine traurige Zeit gewesen. „Heimat deine Sterne“ von Wilhelm Strinz und „Lili Marleen“ von Lale Anderson, das sind die beiden Lieder, die mir in Erinnerung geblieben sind. „Vor der Kaserne, vor dem großen Tor, stand eine Laterne und steht sie noch davor“ - ich habe fast immer geweint dabei, aber ich fand es einfach großartig, das war in die Tiefe gehend, das ging ans Herz. Das hat mir gefallen, trotz des Krieges. Mein Vater war eingezogen, wir bekamen Feldpostbriefe und es gingen die Päckchen von meiner Mutter zu ihm. Er wurde auch schwer verwundet. Aber er ist trotzdem zurückgekommen. Und immer wenn ich das gehört habe, dann habe ich an die Soldaten gedacht. Die vielen, die da zu Tode gekommen sind.
Alice Kuhnert-Hüsing, 81 Jahre, ehemalige Tänzerin Städtische Bühnen
LUCKY ONE
Als ich klein war, hatten wir im Badezimmer einen CD-Player. „Lucky One“ von Bianca Shounburg war meine Lieblings-CD, die ich immer gehört und zu der ich manchmal getanzt habe.
Als meine Eltern sich scheiden ließen, war das für mich total schwierig.
Als ich einmal meinen Vater besuchte, lief zufällig diese CD. Das war ein sehr komisches Gefühl, weil es mich an die Scheidung erinnerte, an das alte Haus, und ich fing an zu weinen. Das war richtig heftig.
Madeleine Fredebeul, 13 Jahre, Schülerin
MACHE DICH AUF UND WERDE LICHT
Als ich meinen 65. Geburtstag feiern wollte, ist mir eingefallen: Mein Sechzigster war das letzte große Fest, aber drei von denen, die ich damals eingeladen hatte, sind schon tot. Das hat mich dann lange beschäftigt: Gehe ich an meinem Geburtstag darauf ein? Das ist ja was Schweres, und ein Geburtstag soll eigentlich fröhlich und lustig sein. Und mir ist noch einmal klar geworden, wie kostbar das Leben ist.
Ich habe dann, kurz bevor wir zur Feier aufgebrochen sind, eine große Glasschüssel aus der Küche geholt und alle Kerzen die ich hatte. Und irgendwann während der Feier habe ich das herausgeholt und gesagt, dass ich mir von meinen Gästen ein Lied wünsche, und eine etwas andere Polonaise als sonst. Wir zündeten die Kerzen an, gingen gemeinsam durch die Räume und sangen "Mache dich auf und werde Licht, denn dein Licht kommt". Einer von den Gästen, ein Chorleiter, hat das sofort andirigiert. Meine Schwester sagte hinterher, der hätte gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd.
Ich habe dann in die anderen Gesichter geschaut und gesehen, dass viele gelächelt und aus vollem Herzen gesungen haben. Auch Natalie, deren Mann ein Jahr zuvor gestorben ist, hat gelächelt. Als ich sie hinterher danach fragte, hat sie gesagt: „Ach, ich habe dann so an meinen Eberhard gedacht“. Und das hat sie als schön empfunden.
Ingeborg Gagelmann, 65 Jahre, Rentnerin
MARMOR, STEIN UND EISEN BRICHT
Dieses Lied erinnert mich an meine Kindheit, weil ich zu Hause keine Liebe gekriegt habe, wie ich es mir von meinen Eltern gewünscht hätte. Ich bin in einer Alkoholfamilie groß geworden, meine Geschwister haben gesoffen, da waren fünf Kinder zu Hause, und da kann man sich ja vorstellen, wie es abgelaufen ist. Die haben mir meine Kindheit halt kaputt gemacht und das werde ich denen nie verzeihen. Auch wenn sie jetzt nicht mehr leben.
Wenn ich mir dann dieses Lied so anhöre, dann ändere ich das in meiner Formulierung immer um. Wenn der jetzt zum Beispiel singt: "Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht", dann denke ich immer: aber eben meine Liebe ist zerbrochen.
Ich sage mal so: Es ist halt schon sehr viel zerbrochen in mir. Aber ich habe gelernt: ich kann reden, ich muss nicht mich verstecken, ich muss meinen Mund nicht halten. Und das sind so Lieder, die mich dann wieder aufbauen.
N.N. (weiblich), 46 Jahre
MUSIK FÜR MÄDCHEN
Ich möchte ja auch so ein bisschen Junge sein eigentlich. Ich spiele auch sehr gerne Fußball, und deshalb möchte ich eher nicht so langsame Tanzmusik haben. Mädchenmusik ist mir zu barbiehaft. Meine Schwester hört auch manchmal so eine Musik, die ich total nervig finde. Dann sage ich ihr, dass das blöde Musik ist, und dann macht sie ganz nervig die Tür zu
Marlene Borchers, 7 Jahre
MUSIK VON IBRAHIM TATLISES
Ich höre alle Lieder. Am meisten türkische Lieder von Ibrahim Tatlises. Und Lieder über Liebe. Liebe im schönen Sinne und Liebe im traurigen Sinne. Weil, ich lerne gerade singen. Mit Kollegen, die zeigen mir so, wie das geht mit dem Singen. Ich muss noch lernen. Auch traurige Lieder so.
Ishak Akkaya, 19 Jahre
MUSIK VON MODERN TALKING
Es gibt in der Retrospektive auch Songs, die man früher zum Kotzen fand, also zum Beispiel alles von "Modern Talking" ist ja schrecklich, aber das erinnert uns jetzt so schön an die 80er Jahre. Und deswegen: wenn ich das jetzt höre, merke ich, wie mein Fuß anfängt zu wippen. Das find ich dann natürlich auch wieder schrecklich und sage: „hör auf zu wippen“; aber der Mensch hat ja die Anlage, alles, was in der Vergangenheit liegt, als schöner zu empfinden und zu verherrlichen.
Und genauso wird es mit den Songs sein, die meine Tochter heute hört, „Hannah Montana“ oder „Highschool-Muscial“, was ich heute schrecklich finde. Irgendwann einmal, wenn meine Tochter sagt: "Ich ziehe heute aus", dann werde ich dasitzen mit den alten Hannah-Montana-Songs und werde eine Träne verdrücken.
Ingolf Lück, 51 Jahre, Comedian und Schauspieler
OLCHILIED
Ich mag das Olchilied. „Fliegenschiss und Olchiwurz, das Leben ist doch viel zu kurz. Wir lieben Schlick und Schlamm und Schleim, das Leben kann nicht schöner sein.“ Weil das so schön eklig ist. Das stinkt schön nach Autoabgasen.
Paul Bode, 6 Jahre
ORANGE TRÄGT NUR DIE MÜLLABFUHR
Wir haben ja bei der WM das Public Viewing unterstützt, mit Absperrmaterial. Wir waren mit acht Mann hier, und wenn man so viel Zeit miteinander verbringt, dann kommt schon Stimmung auf.
Es gibt ja das Lied „Orange trägt nur die Müllabfuhr“, wegen der Holländer, weil die Holländer ja Orange tragen. Wir haben ja orange Warnwesten an, oder zum Abend auch mal eine Jacke, da hat man dann halt seine Fans gehabt, die das für uns gesungen haben. Da kommt man nicht drum herum.
Man stand dann da mit der Polizei und hat das angehört, aber die Stimmung war bei allen gut. Auch bei der Polizei. Das war halt gute Laune.
Lars Schmidtke, 37 Jahre, Straßenwärter
ROTE ROSEN, ROTE LIPPEN, ROTER WEIN
Ich habe als Kind schon einen Bauernhof geführt, von meinen Großeltern, weil mein Vater ja im Krieg war. Da musste ich morgens schon 15 Kühe melken, eine Stunde bis zur Schule, mit dem Fahrrad, und dann nachmittags ging das wieder los.
Dann war ich mal übers Wochenende bei meiner Mutter. Ich hatte mit 17 ja natürlich schon ein Freund, nech?, und meine Schwester ist zweieinhalb Jahre jünger als ich, und wir mussten immer um halb neun abends drin sein bei meiner Mutter, sonst war die Türe zu. Und da kommen wir wieder, ich, mein Freund und meine Schwester, und ziehen ums Haus rum und singen das Lied "rote Rosen, rote Lippen, roter Wein". Unsere Mutter macht die Haustür auf, klatsch-patsch, hatte ich ein paar kleben, klatsch-patsch kriegte meine Schwester auch ein paar. Da sagte sie zu meinem Freund: du hast mitgesungen, du müsstest eigentlich auch noch welche haben. Das vergesse ich mein Leben nicht mehr.
Maria Möske, 70, Rentnerin
SIE IST DAS MÄDCHEN
Ein Liebeslied ist das, von einem deutschen Rapper, MC Amino. Das erinnert mich an meine jetzige Freundin, die ist heute einen Monat zum Urlaub nach Griechenland geflogen. Und als ich sie kennen gelernt habe, hat sie das Lied angemacht und da hat sie geweint. Ich sage mal so: Was er gesungen hat, hat sie extrem viel erlebt. Es geht ja so um Freunde, die einen verarschen, oder du liebst einen und der verarscht dich.
Und dann hat sie mir halt ihre Probleme erzählt und ich hab ihr gesagt, ich werd ihr immer helfen, egal wann. Und wenn ich jetzt immer das Lied höre, dann denke ich natürlich auch an sie.
Dakwaz Ismail, 18 Jahre
STARLIGHT EXPRESS
Ich war etwa 17, als ich einen Freund in Bochum besuchte. Um mir die Nacht gemütlicher zu machen, gab er mir noch Cassetten und meinte, ich könne mir ja etwas Musik zum Einschlafen anhören: „Ich hab das Musical Starlight Express hier". So lag ich dann im Bett, alles dunkel um mich herum un hörte mir die Cassette an. Als der Titelsong "Starlight Express" erklang, war ich hin und weg. Mehrmals spulte ich zurück, um es mir immer wieder anzuhören.
Einige Jahre später rief die Mutter eines anderen Freundes an. Sie sagte: „Ich wollte dich einladen, zum Starlight Express..." Meine Antwort: „Oh, dafür lass ich alles stehen und liegen...!" Die Show war wirklich einmalig und unvergesslich. Mit dem Ergebnis, dass ich insgesamt elf Mal drin war!!!
Karsten van Wulfen, 40 Jahre, arbeitslos
STILLE NACHT, HEILIGE NACHT
Jedes Jahr am 24. Dezember hat sich unsere ganze Familie bei Oma Käthe getroffen. Dann gab es Kaffee, Kuchen, Geschenke, das volle Programm. Und dann wurde „Stille Nacht“ gesungen.
Ich hab dann später den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen, weil sie mich nicht so akzeptiert haben, wie ich bin. Immer wenn sie mich gesehen haben, haben sie losgeschimpft.
Seit Oktober bin ich hier. Bin aber von überall halt. Mal da, mal da, mal da.
Sterni, 21 Jahre, freilebender Münzsammler
SÜSSER DIE GLOCKEN NIE KLINGEN
Ich habe 1971 im Krankenhaus angefangen als Stationsgehilfin, und dann hat die Schwester mir beigebracht, dass ich die Kranken waschen sollte und auch füttern. Und dann kam ja immer langsam der Advent auf einen zu, und ich sang ganz schrecklich gerne Weihnachtslieder. Ich habe „Süßer die Glocken nie klingen“ und „alle Jahre wieder“ gesungen und die Schwestern haben alle Türen aufgemacht, dass mich alle Patienten hörten. Damals kriegte ich einen anderen Namen, und der war „Nachtigall“.
Gerda Kammertöns, 64 Jahre, Stationsgehilfin
THE SIX TEENS
Sehr aggressiver Hardrock. Das ist es, was ich liebend gerne höre, weil ich dadurch meine verstorbene Ehefrau kennen gelernt habe, im Mädchenheim, da war ein Fest, da haben sie die Platten auch gespielt. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, die treten nur in Skelett-Uniform auf, ohne dass die Leute erkennen, wer sie sind.
„The six teens“ von The Sweet war die Platte, zu der wir geheiratet haben. Wir hatten bei der Hochzeit Lederklamotten an, mit Totenköpfen hintendrauf. An den Ringen waren auch Totenköpfe.
Pascha, 50 Jahre
VOLVER
Im Nachhinein erst habe ich erfahren, dass „Volver“ ein argentinischer Tango aus den 20er Jahren ist. Als ich das erste Mal meinen jetzigen, damals noch sehr schüchternen spanischen Freund in seinem Land besuchte, fuhren wir eines Abends zu einem Wochenendhaus seiner Familie in einem alten scheppernden Seat Ibiza. Es ging durch spanische Dörfer, wo die Menschen vor ihren Häusern gemeinsam Karten spielten, über Landstraßen durch Gegenden mit dieser typischen roten Erde. Und als wir dort ankamen, ging schon die Sonne unter, wir fuhren auf einem Feldweg und er begann „Volver“ zu singen. Danach nahm er meine Hand und machte mir seine erste Liebeserklärung.
Tanja Krüger, 33 Jahre, Schauspielerin
WEISST DU WIEVIEL STERNLEIN STEHEN
Meine Mutter hat uns das immer vorgesungen, wenn wir ins Bett gegangen sind: "Weißt du, wieviel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt. Gott, der Herr, hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehle", und da dachte ich, meine Güte, der muss aber zählen können. Da war ich wohl sieben Jahre, ging gerade in die Schule und habe angefangen zu rechnen: Eins und eins und zwei und zwei. Und dachte: Naja nun, so ist das mit den Sternen. Die werden alle abgezählt.
Waldemar Rosner, 74 und einen Tag, ehemaliger Techniker
WEM GOTT WILL RECHTE GUNST ERWEISEN
Immer wenn wir auf Wanderschaft gingen, hatte ich meine Mundharmonika bei mir. „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“, „Wohlauf in Gottes schöne Welt" - das waren die schönsten Lieder. Die haben wir immer gespielt.
Mundharmonika, das ist ein handliches Instrument. Die kann man überall mit hinnehmen. Mein Vater erzählte immer von einem Soldaten bei der Wehrmacht, der seine Mundharmonika in der Jackentasche hatte. Und die Mundharmonika hat einen Schuss abgefangen. Dadurch ist er am Leben geblieben.
Diese Mundharmonika, die hat er noch lange gehabt. Bis an sein Lebensende.
Margarete Sturhan, 73 Jahre, Rentnerin
WENN ICH DICH BRAUCHE
In den siebziger Jahren habe ich auf der Arbeit meine Herzensfreundin Brigitte kennen gelernt. Wir haben stundenlang miteinander quatschen können, gemeinsam gelacht und geweint, über Männer geschimpft und sie geliebt – und wir haben verschiedene Lieder mehrstimmig rauf und runter gesungen. Vor allem „Wenn ich Dich brauche“. Das war „unser" Lied.
Eines Tages, 1979 war das, schenkte mir Brigitte diesen Stoff-Elefanten, weil sie fand, dass dieses Tier besonders gut zu mir passt. Zunächst nahm ich ihr das sehr übel, weil ich es auf meine Figur bezogen habe. Brigitte hat mir dann erklärt, dass ich sehr dickhäutig wirke nach außen, dass ich aber eben auch sehr sensibel wäre.
Brigitte ist dann irgendwann nach Berlin gezogen, der Liebe wegen, und obwohl ich das natürlich auch verstanden habe, habe ich mich trotzdem sehr verlassen gefühlt von ihr. Wir haben uns noch ein-, zweimal gesehen, dann verlor sich unser Kontakt. Aber dieser Elefant, der hat mich immer und überall begleitet. Wenn ich mit dem Zug gefahren bin, saß der immer auf meinem Schoß, und als ich im Krankenhaus war, war er bei mir und hat mir sehr geholfen.
Die Musikkassette mit unserem Freundschaftslied habe ich während einem meiner vielen Umzüge verloren. Letztes Jahr fand ich jemanden, der das Lied selbst hatte und mir überspielte. Und dann habe ich, nach 22 Jahren, zum ersten Mal den Elefanten gewaschen. Zwei Tage danach rief Brigitte aus Berlin bei mir an, und das Wochenende darauf fuhr ich zu ihr. Das Wiedersehen war unbeschreiblich. Für uns ist es, als ob die 22 Jahre dazwischen nie waren.
Lotti Kluczewitz. 54 Jahre, Leitungsassistentin und Schauspielerin
Z POPIELNIKA NA WOJTUSIA
Meinen Zwillingen singe ich das jeden Tag. Auf deutsch heißt der Titel: „Von der Feuerstelle auf den Wojtek“. Ein Kind sitzt vor dem Feuer und ein Funken springt von der Feuerstelle auf den Wojtek über und will dem Wojtek eine lange Geschichte erzählen. Das Problem ist: dieser Funke geht sehr schnell wieder aus und deswegen sind das immer nur kurze Geschichten. Im weiteren Verlauf des Liedes heißt es auch, dass der Wojtek das nicht glaubt, weil es immer nur kurze Geschichten werden.
Mein Bruder heißt auch Wojtek und vor allem deswegen wurde dieses Lied auch bei uns früher sehr oft vorgesungen. Deswegen kenne ich das auch so gut.
Doris Fitzek, 36 Jahre, Versicherungskauffrau