9. Nov.
Eine historische Revue für die Schule
Projektauftrag des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW. Urafführung: 8. November 1998, Ravensberger Spinnerei Bielefeld. Ensembles und AGs der Friedrich-von-Bodelschwingh-Schulen Bielefeld. Regie: Matthias Gräßlin. Musikalische Leitung: Martin Gentejohann. Komposition und Textbuch: Bernhard König.
"Geschichte kann lebendig werden, wenn Schüler sie spielen wie in Bielefeld" (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt)
Ein integratives und fächerübergreifendes Musiktheaterprojekt zum 60. Jahrestag der Pogromnacht. Bei der Uraufführung waren über hundert Bielefelder Gymnasiasten und Sonderschüler an der historischen Recherche, am Bühnenbild, an der Gestaltung des Textbuches sowie an der musikalischen und szenischen Umsetzung beteiligt.


9. Nov.: Programmtext
„9. Nov. - Eine historische Revue“ thematisiert nicht nur Pogromnacht und Mauerfall, sondern es werden daneben auch weitere vielfältige Facetten dieses Datums beleuchtet. Auch unbekannte, teilweise alltägliche Anekdoten und Merkwürdigkeiten, die sich an diesem Tag zugetragen haben, finden in dem Stück ihren Platz. Gerade durch die Konfrontation mit solchen Alltäglichkeiten stellte sich für die Mitwirkenden die schwierige Frage, ob und wie sich Geschehnisse wie die der „Reichskristallnacht“ überhaupt mit Mitteln des Theaters und der Musik „darstellen“ lassen.
Für die über hundert Bielefelder Schüler, die bei der Uraufführung an den verschiedenen Stadien des Theaterprojektes beteiligt waren, wurde die kreative Auseinandersetzung mit solchen Fragen zum hautnahen Geschichtsunterricht. Eine mitwirkende Schülerin vermerkte, sie habe „in den wenigen Monaten der Erarbeitung mehr gelernt (...) als in mehreren Jahren Geschichtsunterricht“ und das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt konstatierte: „Geschichte kann lebendig werden, wenn Schüler sie spielen wie in Bielefeld“.
9. Nov.: Schüleräußerungen
«Auch die Desinteressiertesten in Geschichte haben etwas für die Rolle nachgelesen und durch das eigene Engagement mehr hinzugelernt als in dem langweiligen Geschichtsunterricht. Dadurch behält man das auch viel besser in Gedanken. Das Datum 9. November wird uns in Zukunft immer an das Stück erinnern und zwangsläufig auch an unsere historisch geprägte Vergangenheit.»
(Christiane, 17Jahre und Derman, 17Jahre, Darsteller aus Grünstadt)
«Auch ich habe persönlich das Gefühl, in den wenigen Monaten der Erarbeitung mehr gelernt zu haben als in mehreren Jahren Geschichtsunterricht. Der 9. Nov. ist eben kein stures Aufarbeiten geschichtlicher Fakten. Durch die intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit und das Schlüpfen in historische Figuren fällt es leichter, Entwicklungen, Handlungen und Motive nachzuvollziehen, sowie die Schrecken zu begreifen – wenn auch nur ansatzweise.»
(Anna-Gesa, 16 Jahre, Darstellerin aus Bielefeld)
«Ich kann mir die jeweiligen geschichtlichen Personen jetzt richtig bildlich vorstellen. Ich habe alle behandelten Daten noch im Kopf. Das ist tausendmal besser als Geschichtsunterricht.»
(Luzie, 13 Jahre, AG Neue Musik Grünstadt)
«Das Stück hat mich sehr überrascht, denn es hat eine unglaubliche Ausstrahlung. Es hat aber auch zum Nachdenken angeregt, denn es wird einem richtig klar, wie jetzt hauptsächlich das 20.Jahrhundert verlaufen ist und was auch für schlimme Dinge passiert sind, über die man sich normalerweise keine Gedanken macht.»
(Martin, 15 Jahre, AG Neue Musik Grünstadt)
«Wenn meine Eltern sich früher beim Abendbrot über Geschichte unterhalten haben, saßen meine Schwester und ich dumm rum. Jetzt sitzt nur noch meine Schwester dumm rum.»
(Stefanie, 12 Jahre, Darstellerin Bielefeld)
«Die Diskussionen mit dem Komponisten haben mir einen neuen Zugang zur Neuen Musik verschafft. Ich finde sie jetzt zwar keineswegs gut. Obwohl es, weil es durch Ordnung entstanden ist laut Definition Musik ist, finde ich, dass es nur Geräusche sind. Für mich ist das keine Musik. Das Stück hat mir aber sonst gut gefallen, doch ich muss gestehen, dass ich nicht alles sofort verstanden habe, oft erst nach mehreren Malen. Das macht das Stück schwer für Zuschauer.»
(Lukas, 17Jahre, Instrumentalist aus Grünstadt)
«Auch der Wechsel zwischen eher erheiternden und sehr ernsten Szenen war sehr gut getroffen, da sich in diesen Szenen der 'Strudel der Zeit' widerspiegelt: Auf schreckliche Zeiten folgen immer wieder gute, aber auch wenn es den Menschen gut geht, können sie sofort wieder ins Unglück gestürzt werden. Deshalb wirkten die belustigenden Szenen auch durchaus nicht lächerlich oder flach, wie man es manchmal aus dem Publikum hörte, sondern (...) waren ein Gegenstück zu den Szenen, die stumm anklagten und dadurch große Betroffenheit hervorriefen.»
(Nina, 18 Jahre, Instrumentalistin aus Grünstadt)
9. Nov.: Pressestimmen
«Hämmer auf Mauersteine. Der Krach schwillt an, bis Glas zerbirst. Stille. (...) Der Chor der Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule in Bethel ist Teil des Schultheaterprojekts "9. November". (...) Die historische Revue setzt einen Querschnitt durch die Geschichte in Szene, ihr Fixpunkt ist dabei immer der 9. November: 1918 Ausrufung der Weimarer Republik, 1923 Hitlers erster Putschversuch, 1938 Pogromnacht (...) Während ihrer Recherche entdeckten die Schüler, dass Geschichte politisch missbraucht werden kann, wenn dieser 9. zum "Schicksalstag der Deutschen von den Nazis stilisiert wurde. Sie gruben aber auch zufällige kleine Geschichten vom 9. November aus: "Heidi" veröffentlicht, das Patent für die Dampfmaschine angemeldet und Mr. Tagesschau Werner Veigel geboren. (...) Geschichte kann lebendig werden, wenn Schüler sie spielen wie in Bielefeld (...)»
(Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 6.11.1998)
«Verträgt sich wirklich der Ernst der Judenverfolgung 1938 mit einem Sketch über die 'Mysterien des Kalenders'? Laut Aussage des Komponisten und Autors sind solche Kontraste Absicht – das bedeutet aber noch nicht, dass sie auf der Bühne funktionieren müssen. (...) Poetisch-beklemmende Momente stehen neben flachen Dialogen oder derbem Klamauk, (...) kurz: der Vielfalt fehlt die Einheit – aber schließlich ist das dargestellte Jahrhundert genau so.»
(Die Rheinpfalz vom 11.11.1999)
«Im ersten Moment mag sich in einem etwas sträuben, (...) dieses Stück Geschichte für tauglich zu halten, daraus eine 'historische Revue' oder ein 'außergewöhnliches Musiktheater' zu machen. (...) In der Tat bleibt kaum anderes als die (ohnehin nicht einseitig auf Entertainment zu reduzierende) Form der Revue - selbst wenn mittendrin das unvergleichlich desaströse Fanal der Reichspogromnacht von 1938 steht.»
(StadtBlatt Bielefeld, 5.11.1998
Weiterführende Literatur zum Projekt "9. Nov."
Silke Egeler-Wittmann und Martin Gentejohann: "Experimentelles Musiktheater: Aus der Schule – für die Schule." (In: Musik & Bildung 1/2000, S. 23-29)